Über die Arbeit von Ulrich Polster
Es scheint, als besitze Ulrich Polster die Fähigkeit einer transversalen Wahrnehmung der Bilder. Etwas, das vielleicht einem unmerklichen Schritt zur Seite ähnelt, das es ihm ermöglicht, von einem außerhalb liegenden Standpunkt, aus der Distanz heraus, von den hiesigen Bildern zu sprechen. Ulrich Polster wurde 1963 in Frankenberg in der ehemaligen DDR geboren.
Er gehört zu jener Generation ostdeutscher Künstler, die den wirtschaftlichen, kulturellen und ästhetischen Bruch, der mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Öffnung dieses anderen Europas gen Westen einherging, ganz bewusst erlebt hat und bewältigen musste. Nach einer ersten Phase der Assimilation westlicher Ideen, nachdem sich die Flut des Neuen allmählich erschöpfte, gelang es dieser Generation, sich auf ihr eigenes ästhetisches Erbe zurückzubesinnen – eine Entwicklung, die ihnen heute einen völlig neuen Blick auf den visuellen Stoff der Gegenwart ermöglicht. Solch ein grenzenloser Blick von hier und zugleich von außen also bietet sich dem Zuschauer in Frost I: Uns blickt die moderne Stadt an, in alle Richtungen durchschnitten von vorwärtsströmenden Massen, Straßen, Zeiten der Unsicherheit und der guten Vorsätze – ein leuchtendes Flehen, verkörpert durch eine immer wieder verlöschende und neu aufflammende künstliche Beleuchtung. Diese fließende Stadt - eine Stadt, die wir selbst wiedererkennen - beobachtet uns aus einer ihr eigenen Dunkelheit heraus, aus einer Nacht, die ihr Tempo scheinbar unmerklich drosselt, als sei sie beschwert durch eine andere Erinnerung, die uns diese Welt der Gegenwart nicht vermittelt. Eine Nacht, die uns beobachtet, mit all ihren Scheinwerfern, grellen Verkehrszeichen und schillernden Facetten, die diesen unsichtbaren écran1, der zwischen den Welten steht, aufrecht erhalten. Und wir, die wir sie beobachten. Jeder Lichtstrahl, der dieser eigentlich so nahen Ferne entspringt, wird an einer immateriellen Glaswand, die den Zuschauer vor dieser Dämmerung schützen möchte, förmlich zermalmt. Dazu eine Art der Montage, die uns diese beunruhigende Fremdheit des eigenen Ich und des Anderen nahe bringt, die Schritt für Schritt in die Erzählung des Films einführt: düstere, sich selbst überlassene Gespenster im Gegenlicht, Relikte des Industriezeitalters, eingebettet in eine Landschaft, die sich auf anarchische Weise Geltung verschafft. Die Trauer einer Weltmacht bricht sich Bahn, begünstigt durch das selektive Wirken der Erinnerung, die ihr Erbe erwählt. Davon sprechen die Bilder der Kindheit – Bilder, die einer anderen Zeitebene entstammen, die von der Ästhetik eines Andrej Tarkowski geprägt sind, die die Struktur und die Mehrdeutigkeit der Reminiszenz heraufbeschwören.
Die Scheinwerfer der Fahrzeuge dienen jedoch auch als merkwürdiges visuelles Mittel. Ihr erstes Aufflammen auf der Leinwand hat eine paradoxe, auslöschende Wirkung: Das Bild erscheint vor leuchtend hellem Hintergrund völlig schwarz. Zugleich jedoch erhellen diese Scheinwerfer die dargestellte Stadt, geben der Illusion von der Tiefe des Schauplatzes Raum. Auf diese Weise wirkt das erzeugte Bild – dieser nächtliche Moment in einer Stadt, gefangen zwischen einem glühenden Hintergrund und einer strahlenden Oberfläche – wie eine Schicht, eine Ebene dieser Nacht. Und genau das macht die gesamte Installation aus. Hierin offenbart sich der Grundgedanke, der jedes der Werke von Ulrich Polster so oder in abgewandelter Form bestimmt: Es entsteht eine Installation, die aus einem Schaukasten hervorgeht, gefangen zwischen einem unendlichen, leuchtenden Hintergrund und dem transparenten Glas eines nicht zu überwindenden écran.
Gegenüberstellung der Mittel
Um dieses Zusammenspiel von Inhalt, Form und Oberfläche begreifbar zu machen, müssen zunächst die westliche Weltsicht einerseits und das Erbe einer östlichen Konzeption des Bildes2 andererseits gegenübergestellt werden. Während der Westen von einem narrativen Bild ausgeht, das das Unendliche durch einen Fluchtpunkt darstellt, bedient sich der Osten ganz anderer Einstellungen. Die östliche Idee des Sichtbaren verweigert sich dem Gebot der Ähnlichkeit in der Erzählung. Sie basiert vielmehr auf den Mitteln des Ausdrucks, die das Unfassbare, das Nichtdarstellbare ähnlich einem fernen Horizont erahnbar machen. Das östliche Bild, das zu einem Teil das ästhetische Gedankengut Osteuropas geprägt hat, überschreitet die Grenzen des écran und definiert sich als eine Zone der Vermittlung zwischen der Figur und der Unendlichkeit, die sie ohne jegliche Umschreibung klarbenennt.
Unter diesem Blickwinkel betrachtet, zeigt sich bei Polster, bedingt durch seinen geschichtlichen Hintergrund, eine völlig neue Art der Annäherung an das visuelle Material der Gegenwart sowie eine beständige Konfrontation der vorhandenen Mittel in der Installation. Polster, der sich nach der Wende vor allem von der westlichen globalisierten Maschinerie des Sichtbaren beeinflusst sah, will diese Welt dem östlichen ikonischen Erbe, das er in sich trägt, gegenüberstellen. Auf diese Weise manifestiert sich in seinen Werken die Herausbildung einer neuen, hybriden und sozusagen ultra-kontemporären Art der Installation. Polsters Herangehensweise ist geprägt durch das Bestreben, das originäre Bildmaterial und dessen extremste Wandlungen, das Nichtdarstellbare und die Erzählung des Dargestellten miteinander zu verbinden. Er setzt auf eine frontale Gegenüberstellung der verschiedenen Betrachtungsmöglichkeiten. Aus dieser gleichsam politischen Positionierung heraus treffen die dominierenden westlichen und die in Vergessenheit geratenen östlichen Bilder und Inhalte aufeinander – eine Konfrontation, wie sie in Polsters Fragment Voffen zu Tage tritt.
Der Zuschauer ist umgeben von unterschiedlichen écran und anfangs, angesichts der Aufsplitterung der Inhalte und einer ästhetischen wie thematischen Ungleichheit, in erster Linie desorientiert. Die Nahaufnahme einer Cellistin, die Bach spielt, eine geballte Faust, die es zu beschwichtigen und zu öffnen gilt, der Boden, der unter den Schritten eines Mannes nachgibt, das Bein einer Frau, die den Mann attackiert – die Gesamtheit der Bilder entwirft das Schlachtfeld eines sichtbaren, hörbaren Krieges: des Krieges zwischen den Geschlechtern, zwischen Intimität und Öffentlichkeit, zwischen Fassade und Verborgenem. Durch die Aufsplitterung der Inhalte entwickelt das Werk in seiner Gesamtheit eine Dimension der Distanz und der Leere. Diese fragmentarische Struktur, die sich durch die Zerstückelung des Werkes ergibt, macht es allerdings auch möglich, dass der Zuschauer die Gewalt der Konfrontation nicht passiv ertragen muss. Sie zwingt ihn vielmehr förmlich dazu, sich in die unterschiedlichen Dimensionen der Installation hineinzubegeben, um auf diese Weise zu einer eigenen Interpretation zu gelangen. Bis zu diesem Punkt vermitteln die Videobilder zwar einen Sinn, sie allein bilden jedoch noch keinen Kontrast, keine Gegenüberstellung. Erst wenn der Zuschauer einen kleinen, zerbrechlichen écran wahrnimmt, der durch seine Position im Raum völlig unscheinbar wirkt, wird deutlich, dass sich hier eine andere Typologie des Sehens manifestiert. Ein kahler Baum in der Dämmerung, umwoben von dichtem Nebel, erzeugt eine Melancholie, wie nach einem Verlust oder einem Opfer. Erneut offenbart sich in der Installation die Ästhetik eines Andrej Tarkowski. Sie vermittelt den Eindruck von einem zweiseitigen écran, der sich zwischen dem Hier und dem leuchtenden Außerhalb des Bildes befindet, und evoziert zugleich eine Erscheinung, die kaum wahrnehmbar ist, wie ein Hauch, ein Überrest von etwas, das diese Schwelle überschreitet. Das kleine melancholische Auge dieses schwebenden écran scheint den großen öffentlichen Kampf, der die Welt bewegt, zu beobachten. Es demaskiert die Eitelkeit, die diesem Kampf, diesem Krieg um die Macht zugrunde liegt. Angesichts der konfrontativen Art der Konfliktdarstellung, angesichts des gleißenden Lichts, das als Hintergrund für dieses der Tradition von Andrej Tarkowski folgende Bild dient, schwankt der Zuschauer zwischen Dankbarkeit und Unsicherheit. Er sieht sich konfrontiert mit einem mehrschichtigen écran, der während der diskontinuierlichen Aufeinanderfolge der Bilder praktisch nur Leere ausstrahlt; mit einem zweiseitigen écran, der von einem Licht begleitet ist, in das direkt zu blicken unmöglich scheint und mit einem tönenden écran, der das Sichtbare mit dem Hörbaren in diesem Konflikt verbindet. Die Gesamtheit dieser écran berichtet von der Gewalt der Bilder in der heutigen Zeit.
Eine Ästhetik der Konfrontation
Dieses Infragestellen des Sichtbaren ist bereits in Crisis – der metaphorischen Übertragung des Krieges der Geschlechter auf die Krise des Bildes – in radikalisierter Form zu beobachten. Eine Tür, ein Korridor, an einem Tisch sitzen sich zwei Menschen schweigend gegenüber, spürbare Spannung im Raum – ein Ort der Variationen über das Thema der Unmöglichkeit, Gegensätze miteinander zu vereinbaren. Entsprechend dem Schaukasten erfolgt auch hier kein Austausch zwischen dem Inneren des Raumes, der die dargestellte Szene beherbergt, und der äußeren Welt, dem Korridor. Die Tür – eine Art Fassade, die beide Welten voneinander trennt – öffnet sich nicht und beschränkt so die weibliche Figur jeweils inner-oder außerhalb des Schauplatzes in ihrer räumlichen Freiheit. Der Inhalt des Konflikts kann nicht an die Oberfläche seiner Form, dem Individuum, treten. Den Protagonisten, die durch die undurchdringbare Struktur ihrer Welten gleichermaßen neutralisiert sind, gelingt es nicht, die Grenzen des Sichtbaren und Hörbaren zu überwinden, um die Krise zu bewältigen. Allein der Blickwinkel der Installation kann ihnen helfen, diese Ausweglosigkeit zu überwinden, indem er die Logik der Tiefe, die zwischen einem Vor-der-Tür und einem Hinter-der-Tür unterscheidet, missachtet und stattdessen die Bildoberfläche in kreisende und frontale Bewegungen versetzt. In einem Spiel der Schichtung von Bildern schwanken die Tür, das Profil des Tisches und die Figuren. Sie kreisen um eine zentrale Achse, als wollten sie sich mittels der Zentrifugalkräfte aus der sie fixierenden Installation befreien. Allerdings geschieht nichts, die Szene spitzt sich zu, als die weibliche Person versucht, diesen durchsichtigen écran zu durchbrechen, der sie von uns trennt und der nichts weiter ist, als die Oberfläche des Bildes. Innerhalb und außerhalb, vorn und hinten, intimes Nachsinnen und Stille, Aufnahmen aus Vogel- und Froschperspektive, statisches Bild und Kameraschwenk, Licht und Schatten – Schritt für Schritt entfaltet sich eine Ästhetik der Konfrontation, die ein Bild zeichnet, das einer ausweglosen, missverstandenen Liebe gleicht. Vor allem aber verdeutlicht diese Art, die Krise des Sichtbaren darzustellen, die Macht des écran, der das Bild durch die Schaffung einer nicht zu überwindenden Distanz strukturiert. Wenn schon die Protagonisten selbst diesem verschlossenen Raum nicht entkommen können, so gelingt es dem Zuschauer noch viel weniger, einzugreifen und das Sichtbare verändern, um einen Ausweg aus der Situation zu finden. Das Bild setzt sich in seiner ganzen Autonomie durch, tyrannisch und aufschlussreich zugleich, die Verkörperung einer nichtdarstellbaren Krise.
Die Gesamtheit eines Werks lässt sich als die Erforschung der möglichen Erscheinungsformen des Bildes interpretieren. Ulrich Polsters Bilder sind geprägt von einer konstitutiven Ambiguität, sie schwanken zwischen der Bereitschaft, dem Zuschauer Zutritt zu gewähren, und einer absoluten Unzugänglichkeit des Darstellungsbereichs.
Der undurchlässige écran
Mit Esel stellt Polster den Zuschauer vor ein Rätsel. In einer Serie langer, statischer Aufnahmen – verschiedene Landschaften, von Barackenlagern in einem früheren Wohngebiet bis hin zur Steilküste am Meer – steht jeweils völlig bewegungslos ein Esel. Die beeindruckende Länge der Einstellungen und die Unbeweglichkeit des Tieres werfen eine Reihe von Fragen auf. Das kleinste Zittern des Fells ist bereits ein Ereignis, der Zuschauer möchte wissen, was sich hinter dieser düsteren, undurchdringbaren Schicht verbirgt, was das Tier so sehr beschäftigen mag, dass es scheinbar nicht bemerkt, wie die Zeit vergeht. Erst später wird der Kontrast zwischen diesem Vertreter der freien Natur und seiner Umwelt, dem verlassenen Wohngebiet, deutlich. Natur und Kultur, Ewigkeit und Vergängliches, Bewegung und Starre, Dauer und Augenblick nähren und schüren erneut den Konflikt innerhalb dieses Szenarios, das keine Auflösung, keine Erklärung für uns bereithält. Auf diese Weise setzt sich der Esel schließlich durch, wie die vollkommene Metapher eines unzugänglichen Bildes, das allein die Erschütterungen seiner Oberfläche preisgibt – ein Bild, das der Tiefe der Zeit entspringt und das die Misserfolge der Menschheitsgeschichte durchzieht.
Der transparente écran
Der Hüter des Bildes in Die Verachtung wartet, gefangen in seinem transparenten Kasten, geduldig auf die Ewigkeit und langweilt sich. Er beobachtet den Weg des Lichts, das jenseits des écran entspringt und sich an der Oberfläche unseres Bildes widerspiegelt. So entsteht zwischen ihm und uns durch die Ungleichheit der Zeiten – der ewigen und der situativen – eine Szenografie des undurchlässigen und doch transparenten écran, wie wir ihn bereits aus anderen Werken von Ulrich Polster kennen. Das Bild erscheint wie die Zurschaustellung eines ahistorischen Zeitbegriffs, sichtbar und unberührbar zugleich. Und als wolle sie diese Dialektik der Distanz und des Sichtbaren zusätzlich betonen, bietet die Stimme von Brigitte Bardot3 dem Blick der Phantasie Teile ihres begehrenswerten Körpers dar. Der Zuschauer, Zeuge dieser Desillusion, projiziert seine Enttäuschung auf die Antworten von Michel Piccoli, der, wenn er diesem exhibitionistischen und voyeuristischen Spiel zustimmt, bereits die drohende Zurückweisung vorwegnimmt. Es ist die in ihrem gläsernen Käfig und gleichermaßen in sich selbst gefangene Figur, die uns antwortet – uns, die wir die Position der Bardot teilen, die wir uns nach einem Blick sehnen. Wie für ein Rendezvous, das immer wieder auf später vertagt wird, sucht der Blick des Zuschauers den Blick des Bildes, während das Bild blind, zurückweisend und aus einer viel zu großen Entfernung antwortet. Es dominiert der ewige Walzer der Enttäuschung – ein Walzer, der das Sichtbare, das von zeitlichen und räumlichen Distanzen durchwirkte Verlangen in Bewegung hält.
Der vom Verlangen zerrissene écran
In Sadowaya wird diese Sprache des Scheiterns, welches die Dynamik des Sichtbaren nährt, systematisch wieder aufgenommen. Zwei Menschen, die sich suchen, streifen, finden und verfehlen – in allen ästhetischen Variationen und Brüchen, die darzustellen der digitale écran in der Lage ist. Die Installation ist in immer gleichen Abständen durchbrochen von einem völlig schwarzen écran, der so Zeiten der Unsicherheit und nie stattgefundenen Treffen gewissermaßen miteinander verwebt. Der Künstler verweigert jede Hypothese eines psychologischen Portraits, er zeigt kein Gesicht, keinen Blick, sondern ausschließlich Hände, die sich berühren, Schritte, die sich kreuzen, einen Rücken, der sich dreht, ein Lächeln, das sich andeutet. Aus der durchbrochenen Struktur des Films, ja selbst aus dem verstellten Raster, spricht die Verletzung, die Übertretung, die das Verlangen unweigerlich begeht. Zerzauste Haare, von der Natur zerstückelte Farben, jeder Anhaltspunkt verwischt durch Bewegung. Vor dem Hintergrund ungestillten Verlangens entsteht das Bild in einer Landschaft der Unvollständigkeit und des Scheiterns.
Der écran als Potenzial der Erzählung
Der Schaukasten als adäquates Mittel zur Darstellung der Übertretungen des Nichtdarstellbaren ist ein Instrument, das Polster nutzt, um verschiedene Installationen und Einstellungen miteinander in Beziehung zu setzen, aber nicht das einzige. Polster ist daran gelegen, auch den operativen Wert von konventionelleren Installationen in Frage zu stellen. So nimmt 22.6.2001 direkt auf das der Welt geöffnete albertinische Fenster Bezug und kehrt diese Idee um, indem es die Welt im Rahmen eines Fensters einschließt.
Eine statische Kamera filmt in Nahaufnahme ein geöffnetes Fenster an einer verputzten Hauswand – so, dass die Struktur der porösen Wand in den Vordergrund des Bildes tritt und das Fenster wie ein Loch erscheint. Diese Betonung der haptischen Eigenschaften der Wand steht in Kontrast zur Tiefe, die der Fensterrahmen eröffnet – einer Tiefe, die begrenzt ist durch die Wand der hinter dem Fenster liegenden Wohnung. Polster bedeutet dem bereits eingeweihten Zuschauer auf diese Weise, dass er hier erneut einer dieser Installationen gegenübersteht, welche die Erscheinungsformen eines Schaukastens durchdekliniert.
Die Erzählung beginnt damit, dass ein Mann in das Fenster tritt, der augenscheinlich hinter dem undurchlässigen écran, den die Wand darstellt, wohnt. In 22.6.2001 ist der écran demnach weder völlig undurchlässig, wie in Esel, noch ganz durchsichtig wie in Die Verachtung oder zerschnitten wie in Sadowaya. Polster greift erneut auf das Mittel des quasi herausgeschnittenen Fensters in einem undurchsichtigen écran zurück, gleich einer Art Vorbehalt, den die Undurchlässigkeit der Wand verbirgt. Der Mann gähnt, beobachtet das Geschehen auf der Straße, zündet sich eine Zigarette an, ohne dass sich sein Blick ein einziges Mal mit dem der Kamera, die er scheinbar nicht wahrnimmt, kreuzt. So entsteht der Eindruck, dass er sich aus dem écran heraus, in eine äußere Welt hinein lehnt – eine äußere Welt, die wiederum zu einer inneren gehört. Von der Welt des Zuschauers allerdings scheint er nichts zu wissen. Als eine zweite Person, seine Frau, hinzukommt, steigt das Gefühl des Unbehagens. Der Zuschauer sieht, wie beide miteinander sprechen, kann jedoch ihre Stimmen nicht hören. Zugleich jedoch nimmt er das Zwitschern von Vögeln und den Lärm der Straße deutlich wahr. Was, wenn der Zuschauer hinter dem Auge der Kamera auf gleiche Weise gefangen wäre, wie die Personen im Bild? Die Installation wäre dann die Verkörperung einer endlosen Aufsplitterung der Welt: Das Bild hinter der Wand entspräche der inneren Schicht. Dann käme eine mittlere Schicht der Bewegung, ohne Einstellung, nicht sichtbar (das Leben vielleicht). Und auf der anderen Seite dieser Flut außerhalb des Bildes – die Schicht des Voyeurs, desjenigen, der das Bild konzipiert, der von Ferne das Spiel der Bilder und der écrans analysiert. Die Macht dieser Installation liegt in ihrer Dualität: Zum einen hebt sie das Nichtdarstellbare, das dem Bild nicht zugängliche Element hervor, zum anderen beschränkt sie sich nicht allein auf die Verzerrung des Abstrakten, sondern entwirft vielmehr den Schauplatz einer Erzählung. Diese aufgefächerte Vielschichtigkeit des Bildes ermöglicht es, vom Leben zu berichten, und kann zugleich das, was dem Bild entgeht, unterstreichen, ohne auf den Illusionismus und die perspektivischen Einstellungen des italienischen Theaters zurückzugreifen. Ein solches Bild verdeutlicht seine Zerbrechlichkeit und berichtet zugleich von der Welt.
Der tönende écran
Wenn sich der Bereich des Sichtbaren mit Hilfe des Modells der Schichtungen erklären lässt, warum gelingt es dann aber dem Zuschauer nie, selbst in das Bild, das stets von einer gewissen Distanz geprägt ist, einzutreten? Wäre es denn nicht denkbar, dem Paar in 22.6.2001 einen Besuch abzustatten oder sie einmal zu sich nach Hause einzuladen? Diese Idee von der Intrusion, vom Eintauchen in die Schichten des écran ist für das Werk von Ulrich Polster nicht charakteristisch, sie wird allerdings gegenwärtig vielfach diskutiert. Für uns von Bedeutung ist daher die Antwort, die Polster auf die Frage der Intrusion gibt.
In Atem konstruiert Polster eine tönende Kulisse, und er schafft somit einen Raum, der den Zuschauer in der Mitte der Installation empfängt. Der Zuschauer befindet sich zwischen einem riesigen Projektionsbildschirm und einer Bühne. Von dort wird er in die Vorstellungswelt einer Flötistin eingeführt. Auf dem écran zu sehen sind vom Alter gezeichnete Hände, andere Hände, die unterschiedliche Flöten ergreifen, sie auf mannigfaltige Weise berühren und liebkosen, der Mund eines Kindes, das Zögern, in das Instrument hineinzublasen, daran zu saugen oder zu lecken – kartographische Bilder von einer geheimnisvollen musikalischen Erotik. Hinter dem Zuschauer, auf dem Podest, baut die Musikerin ihre zahlreichen Flöten auf. Während der Projektion spielt sie eine Flöte nach der anderen und untermalt so die Bilder durch ihre intime Beziehung zu dem Instrument. Nachdem sie jedes ihrer Instrumente einmal gespielt hat, entfernt sie sich Schritt für Schritt von der Projektion und öffnet damit den Raum, der den Zuschauer bisher umgab und zwischen den stummen Bildern und der tönenden Bühne festhielt. Der Projektionsbildschirm wird in Richtung Bühne geschwenkt und der Empfangsbereich des Zuschauers wird somit langsam ausgelöscht, was die Auflösung des vergänglichen tönenden écran zusätzlich unterstreicht.
Auf diese Weise eröffnet sich vor dem Zuschauer in der Mitte der Installation ein offener Bereich. Die Frage allerdings, in das Bild einzutreten, das während der gesamten Performance frontal und unberührbar wirkt, stellt sich nie. Allein der tönende écran, der eine imaginäre Ebene aufzeigt, unterstreicht die Distanz des Nichtdarstellbaren, die dem Sichtbaren stets zugrunde liegt. Anhand dieser Bilder erfährt der Zuschauer von der erotischen Ladung, die das Sichtbare und das Hörbare, also das Bild und das Nichtdarstellbare, verbindet.
Der écran – Ort aller Metamorphosen
Ein solcher Parcours entlang der verschiedenen Variationen des Schaukastens, wie ihn Polster in seinen Installationen entwirft, führt zu einer völlig neuen Überlegung: Das Bild bleibt, allein der écran verändert sich, auf metaphorische Weise. Wenn also der écran in derart zahlreichen Variationen auftritt, kann es dann nicht sein, dass er selbst der energetische Kern ist, die Grundlage aller Erscheinungsformen des Bildes?
Die Grundidee von Metamorphosen geht genau in diese Richtung. Eine Frau läuft eine Allee entlang und durchquert dabei verschiedene Zeiten, die durch unterschiedliche Einstellungen am digitalen écran suggeriert werden. Die Frau, selbst eine reine Metapher, ähnelt dem Bild, das aus der Tiefe fiktiver Realität empor steigt, bis hin zu den unterschiedlichen Einstellungen an der Oberfläche des écran. Bisweilen schiebt sich ein zunächst völlig unverständliches Bild in Farbe dazwischen, unterbricht den Lauf der Frau und somit die Erzählung. Erst nach einer Weile wird klar, dass es sich hierbei um eine Maske handelt – eine Maske, die brennt, wie eine alte Haut schrumpft, mal andere, tiefer liegende Masken offen legt, mal einen durchlöcherten écran, der nichts mehr ausstrahlt. So pendelt das Bild zwischen realistischer Nachahmung und synthetischer Rekonstruktion, schwankt zwischen einem narrativen écran, der verschiedene ineinander geschichtete Figuren zeigt, und einem Grenzbildschirm, der das nicht Nichtdarstellbare, das außerhalb des Bildes Liegende verschleiert. Unter dem Druck dieser beider Extrempunkte im Spektrum des Sichtbaren setzt das Bild unbeirrbar seinen Weg fort, entlang der Variation von Installationen und écrans.
Stéphanie Katz ist Philosophin und lebt in Paris
Übersetzung Bettina Atangana