stalker material - claus löser - schlafende bilder /besprechung

schlafende bilder /von claus löser

Ausgerechnet am 1. Mai 1981 lief in einigen Kinos der DDR Andrej Tarkowskijs Spielfilm Stalker an. Die Kunde von diesem seltsamen, rätselhaften, philosophischen, in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Werk verbreitete sich in den Kreisen der nach Auswegen aus dem geistigen Dilemma der realsozialistischen Alltagsexistenz suchenden Menschen wie ein Lauffeuer. Wie war dies möglich? Dass uns ausgerechnet aus der Sowjetunion ein Film erreichte, der diese verborgenen Saiten in uns anschlug? Denn das Verblüffende war, dass wir uns in dieser scheinbar hermetischen Welt der Zone sofort heimisch fühlten. Dies beileibe nicht, weil die DDR im Volksmund bisweilen noch immer als Zone bezeichnet wurde! Dieser banale Zusammenhang kam uns nicht in den Sinn. Vielmehr schien es, als würden durch diesen Film Stimmungen formuliert, die schon lange in uns schlummerten, als würden durch den Stalker quasi schlafende Bilder geweckt. Es sagt sich schnell dahin, dass ein einziges Kunstwerk in der Lage sein könnte, eine ganze Generation zu prägen. Da müsste erst einmal geklärt werden, wie diese Generation zu definieren ist. Dennoch scheint mir eine solche Prägung hier vorzuliegen. Es gab ein Leben vor Stalker. Und es gab ein anderes danach.

Frustriert von der Banalität und Ausweglosigkeit unserer Situation und gänzlich erwartungslos gegenüber der landeseigenen DEFA-Filmproduktion, bewies dieser Film, dass es unter weitaus schwierigeren Umständen möglich war, einmalige Kunstwerke zu schaffen. Nun gab es keine Ausreden mehr - weder für die opportunistischen Verrenkungen der arrivierten Filmemacher, noch für uns selbst. Wir, die wir als junge Poeten, Maler, Musiker und eben auch Filmer nach einer eigenen Sprache suchten, erfuhren in diesem Suchen eine ungeheure Ermunterung. Wenn in der UdSSR - einem Land, in dem, wie wir wussten, noch immer Menschen wegen geringfügiger Abweichungen von der Norm in den Knast oder die Psychiatrie gesteckt wurden - wenn in einem solchen Land ein derart autonom wirkender Film entstehen konnte, dann war es an der Zeit, sich nun endlich etwas weiter aus dem Fenster zu lehnen, als man sich dies bislang zugetraut hatte.

Die früheren Filme Tarkowskijs, vor allem Andrej Rubljow, hatten bereits wichtige Impulse in die unabhängige Kunstszene der DDR entsendet. Stalker war eine noch wichtigere Zäsur. Mehrere Künstlerinnen und Künstler, die versuchten, dem staatlichen Bildermonopol etwas ganz Anderes entgegenzusetzen oder dieses zu unterwandern, fühlten sich nun immens motiviert. Filmische Arbeiten von Lutz Dammbeck (Einmart), Cornelia Schleime (Das Puttennest) oder Flanzendörfer (eisenschnäbelige krähe) sind ohne Tarkowskij nicht denkbar. Auch meine eigenen filmischen Gehversuche waren unmittelbar von Tarkowskij inspiriert. Und sie waren dabei von vielen Missverständnissen und Fehlinterpretationen begleitet.

Es war in gewisser Hinsicht lächerlich, mit den für Familienaufnahmen entwickelten Super-8 oder 16mm-Kameras (sowjetischer Bauart!), die großen elegischen Bewegungen, die epische Breite und die philosophische Tiefe Tarkowskijs nachempfinden zu wollen. Dies stieß schon sehr bald auf rein technische Grenzen. Denn die Kameras der Marken Quarz und Krasnogorsk arbeiteten mit aufziehbaren Motoren, die nur sehr kurze Sequenzen ermöglichten. Auch war von der DDR aus die Komplexität der sowjetischen Arbeitsbedingungen nicht zu überblicken. Natürlich war auch der große Meister ein Teil des Systems - nur war dieses System weitaus widersprüchlicher, als es sich für uns mit unseren DDR-Erfahrungen darstellte. So formte unsere Wahrnehmung die Filme Tarkowskijs unfreiwillig zu etwas anderem um, amalgamisierte sie mit eigenen Erlebnissen und Wunschvorstellungen, machte sie zu Projektionen im doppelten Sinne. Der Schöpfer von Stalker war für uns eine Art Heiliger, damit eher ein Schutzpatron als ein Künstler, geschweige denn ein Mensch. Diese Überblendung schuf etwas Neues, verstellte aber auch den Blick auf die Realitäten. Es war beispielsweise fast unmöglich, den subtilen Humor zu entschlüsseln, der in seinen Filmen versteckt war. Dies hätte dem Märtyrer-Mythos widersprochen.

Als Tarkowskij 1983 die Sowjetunion verließ und bis zu seinem Tod am 29. Dezember 1986 im Westen arbeitete, erfüllte sich eine Vorahnung der Vergeblichkeit, die uns wiederum bestätigte. Auch in der DDR waren längst alle utopischen Potentiale aufgebraucht. Die Reformversuche kamen in der UdSSR ebenso zu spät wie im Osten Deutschlands. Den Raum, in dem sich alle Wünsche erfüllen würden, gab es nicht.

Claus Löser, Februar 2015