wir sind das volk /konzept
wir sind das volk /konzept (ausschnitt)
Wem ich nie begegnete, das bin ich,
sie mit dem Gesicht eingenäht
in den Saum meines Bewusstseins
Sarah Kane, “4.48 Psychose” 2000
Die Video/Soundinstallation hinterfragt den Slogan “Wir sind das Volk” auf seine
gesellschaftliche Relevanz 1989 und heute und thematisiert den Bedeutungsgehalt
angesichts medialen und gesellschaftlichen Missbrauchs einerseits und
romantischer Idealisierung andererseits. Gleichzeitig fragt die Arbeit nach dem
aktuellen Zustand Europas und entdeckt das Lokale im europäischem Kontext und
umgekehrt.
Der Reiz der Installation entsteht aus der Abbildung melancholisch gefärbtem
Rückblicks, poetisch transformierter Wirklichkeit und der Widersprüchlichkeit
des Lebens im Europa des Jahres 2014.
Elias Canetti schrieb in Masse und Macht: “Nur alle zusammen können sich von ihren Distanzlasten befreien. Genau das ist es, was in der Masse geschieht. In der Entladung werden die Trennungen abgeworfen und alle fühlen sich gleich. In dieser Dichte, da kaum Platz zwischen ihnen ist, da Körper sich an Körper presst, ist einer dem anderen so nahe wie sich selbst. Ungeheuer ist die Erleichterung darüber. Um diesen glücklichen Augenblicks willen, da keiner mehr, keiner besser als andere ist, werden die Menschen zur Masse”.
Wir sind das Volk.
Video:
Vier Videodisplays werden jeweils rechts und links des Innenstadtrings in einem
Abstand von ca. 20 Metern angebracht. Die Bilder der Videosequenzen sind
miteinander synchronisiert und thematisieren den Gebrauch des Slogans “Wir sind
das Volk” 1989 und in den Jahren 2013⁄14, als dritte Bildebene sind
Videosequenzen von aktuellen europäischen Ereignissen einbezogen.
Sound:
Der Sound wirkt wie eine Soundschleuse. Durch eine spezielle Wahl des
Soundsystems (Laut-sprecher mit einem geringen Abstrahlungswinkel) entsteht ein
präzis abgegrenzter Soundraum, der ein intensives akustisches Erlebnis
ermöglicht. Die Quellen der Soundcollage sind historisches Material vom Herbst
´89, Mitschnitte der Demonstrationen gegen den Bau einer Moschee in Leipzig,
Interviews des mdr gegen ein Asylbewerberheim in Leipzig im Herbst 2013 und
Mitschnitte von aktuellen gesellschaftlichen Ereignissen des Jahres 2014. Durch
die zum Teil asynchron zugeordneten Bilder entstehen neue
Bedeutungszusammenhänge. Das Lokale veschmilzt mit ds überregionalen. Das
historische wird zur Gegenwart und umgekehrt. Die Blick-richtung und Einordnung
des Herbstes ´89 wird durch die assoziativen Zusammenhänge neu verortet und die
europäische Dimension im Leipzig des Herbstes 2014 entdeckt.
Zur Entstehung der Arbeit:
Anfang Februar 2014: In Sotschi wurden gerade Putins Spiele eröffnet, die
Schweiz hat sich gegen eine “Massenzuwanderung” ausgesprochen und im TV läuft
gerade eine Pressekonferenz mit Nazif Mujic, dem bosnischen Schrotthändler, der
2013 den Bären für den besten Darsteller gewann. Während der Filmfestspiele
pendelt er zwischen Hotel und Asylunterkunft, in der er mit seiner Frau seit
einem Jahr lebt. Vor einer Woche war die letzte Demonstration von dem Bündnis
“Leipzig steht auf” gegen das Asylantenwohnheim in Leipzig Schönefeld. In der
Leipziger Volkszeit vom 5.2.14 steht, dass sich die NPD im diesjährigen
Europawahlkampf auf ihre Zentren wie z.B. Leipzig und Dresden konzentrieren
wird. Der Wahlslogan der Kampagne wird sein: “Wir sind das Volk” mit dem gezielt
Menschen aus der bürgerlichen Mitte angesprochen werden sollen.
Ich sitze vor dem Computer und suche nach Bildmaterial von den
Herbstdemonstrationen 1989 und von den Demonstrationen vom Herbst 2013 gegen die
Errichtung einer Moschee in Leipzig Gohlis und gegen Asylantenwohnheime in
Leipzig und Sachsen. Ich merke, dass ich unbewusst die Bilder vergleiche. Ähneln
sich Gesichter, gibt es Parallelen in den Gesten und im Tonfall? Waren die
empörten Leipziger von heute schon 1989 auf der Straße? Gibt es Parallelen
zwischen den Ereignissen?
In ihrem Buch “Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens”
untersuchten Margarete Mitscherlich-Nielsen und Alexander Mitscherlich am
Beispiel der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands die
Abwehrhaltung und das Verdrängen des Einzelnen und der Masse gegenüber Schuld
und Mitschuld am Verbrechen im Nationalsozialismus.
Ich denke wieder an die Gesichter auf den Monitoren. War die “Friedliche
Revolution” auch eine Revolution im sozio-/psychologischem Bereich, oder
änderten sich “nur” die Besitzverhältnisse? War der Herbst ´89 auch ein
Hinterfragen der Rolle jedes Einzelnen im System, oder ging es um die Anpassung
und das Verdrängen von eigenem individuellem Versagen und Mitmachen. Wie wirken
die Mechanismen von blindem Gehorsam weiter?
Man gibt das weiter, was man bekommen hat, wenn es keine aktive
Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten und der eigenen Geschichte gibt.
Die Ursachen von Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und die Angst vor dem Anderen
liegen tief und speisen sich aus Quellen, die unter den Schichten des Bewussten
unser Verhalten, unsere Maßstäbe und unsere Anschauungen beeinflussen.
bitte öffnet den Vorhang
Sarah Kane, “4.48 Psychose” 2000
18.2.2014 Ich sehe in den Nachtnachrichten die Bilder vom brennenden Kiew. Eine junge Frau gibt ein Interview. Sie ist auf eine ansteckende Art empört und ich empfinde Anteilnahme. Die Atmos-phäre auf dem Platz ist von einem großartigen Gemeinschaftsgefühl geprägt. Ich höre sie durch ihren Gesichtsschutz sagen: “ми національний”, die Stimme aus dem off übersetzt: “Wir sind das Volk” und sie verschwindet in der Masse der Zehntausenden.
Am 19.10. 2014 gründet sich “Pegida” in Dresden.